Kamikochi (sprich: Kamikootschi) ist im September 2017 erschienen. Die Erzählung spielt im gleichnamigen Hochtal in den Bergen Japans und handelt von einer mysteriösen Schönheit, einem schrulligen Alten und einem Fabelwesen, dem Kappa.
«Hallo, Yuki», sagte er. Sie lächelte und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen. Nach einer Weile sagte sie unverwandt: «Ein seltsamer Name, nicht wahr? Yuki, Schnee. Dabei mag ich den Winter überhaupt nicht. Aber die Sommerhitze, die liebe ich, den Frühlingswind, die farbigen Blätter im Herbst. Alles, nur nicht den Schnee.» – «Du hast helle Haut, das ist es. Schnee.» Yuki schwieg, lehnte sich zurück, stützte sich auf die Ellbogen und schloss die Augen.
Mit einem Nachwort von Prof. Dr. Mario Andreotti
Fotos und Gestaltung: Nicolas Eyer
Edition Signathur, 2017, ISBN 978–3–906273–16–7
Klappenbroschur, 100 Seiten, Fr. 21.–/€ 19.50
«Kamikochi»: ein literarisches Schatzkästchen aus Japan
Rezension von Felix Sachs, St. Gallen
Leichtfüssig kommt sie daher, die Geschichte aus Japan, anmutig dahinschwebend wie die gertenschlanke Yuki, die Schönheit aus Japan. In ihrer Studienzeit hat sie sich in der Schweiz in Fritz Kägi verliebt und ihn geheiratet und seither verbringt sie mit ihm die Ferien in Japan. Kägi aber verliebt sich immer mehr in dieses Land und in seine Schauergeschichten von Geistern und Fabelwesen, die Menschen ins Wasser ziehen und wegen ihrer Leber verzehren. Yuki verabscheut diese Gestalten, die sie an angstvolle Geschichtenabende in ihrer Kindheit erinnern. Statt mit seiner Frau die Ferien bei ihren Verwandten in der Stadt zu verbringen, entführt er sie lieber in die steilen Bergtäler Zentraljapans. Dort sollen die Geister zuhause sein und von Hüttenwarten kann er mehr über sie erfahren. So fühlt sie sich von ihm vernachlässigt. In einem einsamen Berghotel begegnen sie Reiser, einem anderen Schweizer, der hier die Ruhe in der Einsamkeit sucht. Damit ist es jedoch bald vorbei. Gleich am ersten Abend führt Momoko, junge Bedienstete im Hotel, das Ehepaar an den gemeinsamen Abendtisch. Sein Widerwille gegen die unwillkommene Gesellschaft verfliegt schnell, als er die leuchtende Schönheit und die Intelligenz und Klugheit Yukis wahrnimmt. In den nächsten Tagen entwickelt sich eine innere Freundschaft zwischen den beiden. Reiser ist sich seiner Verantwortung bewusst und versucht, sich ihrer Gegenwart womöglich zu entziehen. Am baldigen Bergfest des Hotels zur Eröffnung der Saison, mit vielen Verkaufsständen, Feuerwerk, Musik und traditionellen Tänzen, verbandelt Yuki ihren Mann mit Nakamura, einem alten Japaner, der mit ihm die Leidenschaft für die Schauerwesen teilt, und überrascht Reiser mit einer Liebesnacht in seinem Zimmer. Kägi schöpft jedoch Verdacht und trifft am andern Tag Reiser bei einem kleinen Waldsee. Die beiden bleiben verschwunden. «Niemand wusste, was mit Reiser und Kägi geschehen war. Nur der alte Herr Nakamura hatte eine Erklärung.»
Im Nachwort entschlüsselt der Literaturwissenschaftler Mario Andreotti die vielen Anspielungen dieser postmodernen Erzählung von der Romantik bis zur Moderne. Er weckt damit die Lust des Lesers, sich einmal die entsprechenden literarischen Kunstwerke, vielleicht sogar die romantische Naturphilosophie Schellings vorzunehmen. Der Leser wird dankbar die kurze Erzählung ein zweites und gar drittes Mal lesen, um die literarischen Bezüge bewusst wahrzunehmen. Mit diesem Nachwort wird Eyers Erzählung zu einem literarischen Lehrstück par excellence. Die stimmige Verbindung der Erzählung mit der Landschaft zeichnet die Kunst Eyers besonders aus.
Wie liest sich wohl die Geschichte mit den Augen der modernen Frau, des modernen Mannes? Die Figur Yukis erinnert auf den ersten Blick stereotyp an das «ewig Weibliche» Goethes, das «uns» (die Männer) hinanziehen soll – ein Frauenbild, das uns heute eher befremdlich vorkommt. Auch die anderen weiblichen Rollen scheinen traditionellen Stereotypen zu entsprechen: Das Zimmermädchen heisst verniedlichend Momoko, «Pfirsichkind»; die Frau des alten Herrn Nakamura sitzt einfach da und sagt kaum etwas, während ihr Mann erzählt. Auch die beiden Ehemänner verhalten sich, als gäbe es ausser ihrer eigenen Phantasiewelt nichts und ihre Frauen hätten keine eigenen Interessen und Wünsche. Aber alle diese weiblichen Stereotype werden aufgehoben, karikiert und ins Gegenteil gewendet: die aufgeweckte Momoko lacht über die Fabelwesen ihres Grossvaters, des alten Herrn Nakamura, findet sie zwar niedlich, glaubt aber nicht an sie; Frau Nakamura schüttelt am Ende der Erzählung ihres Mannes den Kopf und bringt ihre Einwände vor: «Vielleicht hast du dich getäuscht.»; und Yuki ergreift selbst die Initiative und fädelt geschickt die Liebesnacht mit Reiser ein.